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Biographie
"...Ein
Mann mit der Seele jenes schönen weißen Christus, der aus
Rußland hervorzugehen scheint."
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Oscar
Wilde über Kropotkin |
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Pjotr
Aleksejewitsch Kropotkin wurde am 9. Dezember 1842 in Moskau geboren. Er
entstammt einer der vornehmsten Adelsfamilien, deren Stammbaum bis auf
Rurir, dem Gründer des altrussischen Reiches, zurückgeführt werden
kann. Seine Vorfahren waren Großfürsten von Kiew oder Smolensk. Obwohl
die Familie seit der Zeit der Romanows offenbar über keinen wirklich
großen politischen Einfluß mehr verfügte (Cattepoel, 1979: 101),
besaß Kropotkins Vater nach wie vor riesige Ländereien und gebot über
1200 Leibeigene. |
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Seinen
Vater beschreibt er in seinen Memoiren als autoritären Offizier; seine
Mutter starb bereits als er drei Jahre alt war (Kropotkin, 1969: 5 ff.).
Kropotkins Stiefmutter vernachlässigte offenbar die Erziehung von ihm
und seinem älteren Bruder Alexander; beide wurden hauptsächlich von
einer deutschen und einer russischen Kinderfrau erzogen. Kropotkin sieht
in dieser Tatsache seine Vorliebe für das "einfache Volk"
begründet. (Kropotkin, 1969: 18 ff.). |
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Im Alter
von acht Jahren wurde er von Zar Nikolaus I. für den späteren Eintritt
in das Pagenkorps ausgewählt, eine priveligierte Institution, die
späteren Offizieren eine breite Allgemeinbildung vermittelte. Da er
ständig Klassenprimus war, wählte ihn Nikolaus' Nachfolger Alexander
II. zum persönliche Kammerpagen (Kropotkin, 1969: 85 ff.). Seine
anfängliche Bewunderung für den Befreier der Leibeigenen erschütterte
ein Schlüsselerlebnis: Einem alten Bauern war es gelungen bis zum Zaren
vorzudringen, um eine Bittschrift zu überreichen,
"...doch
Alexander II., der vor wenigen Minuten während einer gottesdienstlichen
Handlung gelacht hatte, weil ein Zopf verkehrt lag, ging jetzt an dem
Bauern vorüber, ohne irgendwie davon Notiz zu nehmen. [...] So nahm ich
sie denn, obwohl ich wußte, daß mich Tadel dafür treffen würde. Es
war nicht meine Sache Bittschriften entgegenzunehmen, aber ich dachte
daran, was es den Bauern gekostet haben mußte. [...] Wie allen Bauern,
die dem Zaren Bittschriften einhändigten, stand ihm das Los bevor, auf
wer weiß wie lange Zeit verhaftet zu werden (Kropotkin, 1969: 176,
177)."
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1862,
nach dem Erwerb seines Offizierspatentes, beschloß Kropotkin zum
Erstaunen aller und zum Unwillen seines Vaters, nicht bei einer
Gardeeinheit zu bleiben oder die Universität zu besuchen, er wollte
sich nicht länger in Abhängigkeit des Zaren befinden. Er ließ sich
nach Sibirien zu den Amur-Kosaken versetzen (Kropotkin, 1969: 182 ff.). |
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In Sibirien interessierte ihn weniger der militärische Dienst, sondern
mehr die Geographie der Region sowie die Lebensweise ihrer Bewohner; er
nutzte seinen Aufenthalt zu ausgedehnten Forschungsreisen. So erkundete
er die ostsibirischen Ströme Amur, Ussuri und Schilka und legte
offenbar mit einer Expedition in die damals völlig unbekannte
nördliche Mandschurei die geographischen Grundlagen für den Bau der
transmandschurischen Eisenbahn (Cattepoel, 1979: 102). Die sibirischen
Besiedlungs- und Verwaltungsprogramme, an denen er beteiligt war,
verliefen für ihn nicht zufriedenstellend; wiederholt kam es vor, daß
korrupte Beamte, gegen welche er mühsam Material gesammelt hatte, nicht
nur unbehelligt blieben, sondern sogar noch befördert wurden; er mußte
feststellen, daß die Petersburger Bürokratie keine Reformer wünschte
(Kropotkin, 1969: 202 ff.). In Sibirien verlor er, wie er selber meint,
den Glauben an den (Zentral-)Staat, war jedoch andererseits beeindruckt
von den Resultaten, die Siedler außerhalb offizieller
Besiedlungsprogramme in Eigeninitiative zustande brachten (Kropotkin,
1969: 255 ff.). |
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Als fünf
polnische Gefangene hingerichtet wurden, quittierte Kropotkin seinen
Dienst, da ihm "so vor Augen geführt wurde, was die Zugehörigkeit
zum Heere bedeutete (Kropotkin, 1969: 263)". Dies führte zum
endgültigen Bruch mit seinem Vater, von welchem Kropotkin von nun ab
keine finanzielle Unterstützung mehr erhielt. Er begann, 1867 in
Petersburg Mathematik und Geographie zu studieren. In seinen Memoiren
heißt es dazu:
"Wonach ich mich
seit fünf Jahren gesehnt hatte, das war nun erreicht: Ich konnte mich
ganz dem Studium widmen. Da ich der Anschauung huldigte, eine
gründliche Ausbildung in Mathematik sei die einzige zuverlässige
Grundlage für alle spätere wissenschaftliche Arbeit, so schloß ich
mich der mathematischen Abteilung der physisch-mathematischen Fakultät
an."
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Bei
seinen Forschungsreisen in Sibirien hatte er bemerkt, daß die
topographischen Karten nicht stimmten, zwei Jahre hatte er deswegen
Daten zur asiatischen Gebirgsbildung gesammelt, nun gelang es ihm, diese
schlüssig zu ordnen.
"Es
gibt nicht viele Genüsse im menschlichen Leben; welche dem
Glücksgefühl gleichkämen, das wir bei der plötzlichen Offenbarung
einer nach langer geduldiger Forscherarbeit unsern Geist erleuchtenden
allgemeinen Wahrheit empfinden. Was jahrelang
so wirr, so widersinnig und unbegreiflich erschien, fügt sich sofort
wunderbar in ein harmonisches Ganzes (Kropotkin, 1969: 267)",
stellt er
in seiner Biographie dazu fest. Nachdem er durch seine Neuordnung der
asiatischen Höhenzüge zumindest in geographischen Kreisen auf einen
Schlag berühmt geworden war, beschloß er, eine umfassende Geographie
Rußlands zu schreiben, fragt sich jedoch gleichzeitig:
"Welches
Anrecht hatte ich auf diese höheren Freuden, wenn ich um mich herum nur
Elend sah und den Kampf um ein schimmliges Stück Brot, wenn alles, was
ich ausgab, um in jener erhabeneren geistigen Welt weilen zu können,
notwendigerweise denen vor dem Munde weggenommen werden mußte, die den
Weizen bauten und kein Brot für ihre Kinder hatten (Kropotkin, 1969:
283)."
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Aus
diesem Grund entschloß sich Kropotkin 1871, das Angebot der Russischen
Geographischen Gesellschaft, ihr Sekretär zu werden, abzulehnen. Er
wollte nun die russischen Bauern darin unterstützen, Besitzer ihres
Landes zu werden. Um sich genauere Kenntnisse über die sozialistischen
Ideen - er hatte schon in Sibirien die Schriften von Bakunin und
Proudhon kennengelernt, insbesondere die Kritik des Staatssozialismus
des ersteren überzeugte ihn theoretisch - anzueignen, fuhr er 1872 in
seiner ersten Auslandsreise in die Schweiz und trat hier der
Internationalen Arbeiterassoziation bei. Bei den Uhrmachern der
Schweizer Juraföderation fand er sein Ideal verwirklicht: Einen Bund
von Arbeitern, in dem es keinen Unterschied zwischen Führern und
Geführten gab. Er war von nun an völlig von anarchistischen Prinzipien
überzeugt: "[...] Als ich die Uhrmacher des Jura, nachdem ich etwa
zwölf Tage unter ihnen geweilt hatte, verließ, standen meine
sozialistischen Ansichten fest: Ich war Anarchist (Kropotkin, 1969:
330)." Bakunin lernte er nicht persönlich kennen, und als er vier
Jahre später in die Schweiz zurückkehren konnte, war dieser
zwischenzeitlich gestorben (Cattepoel, 1979: 104). |
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Mit
dreißig Jahren schloß sich Kropotkin in Rußland dem konspirativen
Tschaikowsky-Kreis an. Es begann für ihn ein abenteuerliches
Doppelleben; tagsüber hielt er sich in Hofuniform im Palast des Zarens
auf, abends strich er unter dem Pseudonym "Borodin" durch die
Kneipen und diskutierte mit den Arbeiten über eine Revolution. Er
beschloß, erneut der Geographischen Gesellschaft beizutreten, um unter
dem Vorwand geographischer Studien unter Bauern agitieren zu können. Im
März 1874, direkt nach einer Sitzung der Gesellschaft, in welcher
Kropotkin zum Vorsitzenden der Sektion für physische Geographie
vorgeschlagen worden war, wurde er verhaftet und ohne
Gerichtsverhandlung in die Peter-und-Pauls-Festung gebracht (Kropotkin,
1969: 390 ff.). Der Aufenthalt in der naßkalten Zelle zehrte schwer an
seiner Gesundheit. Er erhielt eine Sondergenehmigung, die es ihm
gestattete, tagsüber Papier und Feder zu benutzen und schrieb das Buch
"Untersuchungen über die Eiszeit". Obwohl er durch
regelmäßige Gymnastik versuchte seine Gesundheit zu stützen,
erkrankte er nach zwei Jahren schwer an Skorbut. |
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Kaum
genesen gelang es Kropotkin, mit Hilfe von Freunden aus dem
Militärhospital zu fliehen. Über Finnland, Schweden und Norwegen
gelangte er nach England, wo ihm Asyl gewährt wurde. Er schrieb unter
einem Pseudonym Artikel über russische und geographische Fragen für
"Nature" und "The Times" (Kropotkin,
1969: 428 ff.). 1876 zog es ihn erneut in die Schweiz, wo er sich den
Anhängern des jüngst verstorbenen Bakunin anschloß, dem sog.
Jurabund. Hier brachte er die Zeitschrift "L'Avant-Garde"
heraus und nach deren Verbot "Le Révolté" (Der
Rebell), in welchem er die meisten Artikel selbst schrieb (Kropotkin,
1969: 461 ff.); sie erschienen 1885 als Buch unter dem Titel "Worte
eines Rebellen". Der regelmäßig erscheinende, gut
geschriebene "Révolté" trug offenbar viel dazu bei,
daß aus dem Anarchismus um die Jahrhundertwende eine verhältnismäßig
geschlossene Doktrin mit weiter Verbreitung wurde (Cattepoel, 1979:
105). Obwohl Kropotkin mit der Ermordung Alexander II. offensichtlich
nichts zu tun hatte, wurde er aus der Schweiz ausgewiesen. Nach einem
Jahr in London ließ er sich in Thonon am Genfer See nieder. 1882 hatte
es in Lyon Unruhen und mehrere Sprengstoffanschläge gegeben; daraufhin
wurden mehrere Anarchisten verhaftet, unter ihnen auch Kropotkin. Trotz
ungenügender Beweislage wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt
(Kropotkin, 1969: 502 ff.). |
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Nach
seiner vorzeitigen Freilassung siedelte er erneut nach London über, wo
er nun über dreißig Jahre blieb. Seitdem führte Kropotkin weitgehend
das Leben eines Wissenschaftlers und Privatgelehrten. Er setzte hier
seine unermüdlichen Tätigkeiten fort; in Paris erschien nach wie vor
seine Zeitschrift, nun unter dem Titel "La Révolte",
die darin enthaltenen Aufsätze faßte er 1892 in dem Buch "La
Conquête du Pain" zusammen, auch sein wichtigstes
theoretisches Werk "Mutual Aid" schrieb er in dieser
Zeit. Er gewann allgemeine Achtung auch in wissenschaftlichen Kreisen,
denen revolutionäre Ideen fremd waren, eine zeitlang hieß es, er solle
einen Lehrstuhl in Cambridge erhalten. Erneut arbeitete er u.a. für
"The Times" und "Nature", schrieb
daneben auch fast alle Artikel
über Rußland in der "Encyclopedia Britannica"und
gründete die heute noch erscheinende Zeitschrift "Freedom"
(Kropotkin, 1969: 571 ff.).
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1917,
nach Ausbruch der Oktoberrevolution, kehrte er nach über
vierzigjährigem Exil nach Rußland zurück, wurde jedoch in seinen
Hoffnungen, die Revolution würde in anarchistische Bahnen gelenkt, sehr
enttäuscht. Nach und nach verschwanden immer mehr Anarchisten in den
Gefängnissen; Kropotkin kam zu dem Schluß:
"Die Revolution
wird ihren eigenen Weg gehen, den des geringsten Widerstands, ohne
unseren Bemühungen die mindeste Beachtung zu schenken. Zur Zeit
befindet sich die russische Revolution in folgender Situation: Sie
begeht Greuel; sie ruiniert das Land; in ihrer wahnwitzigen Raserei
vernichtet sie Menschenleben [...] sie zerstört, ohne zu bedenken, was
sie zerstört und wohin sie geht. Wir sind gegenwärtig nicht im Stande
sie in andere Bahnen zu lenken, bis zu dem Zeitpunkt, da sie ausgespielt
haben wird. Sie muß sich totlaufen (zitiert nach Joll, 1969:
139)."
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Im
Februar 1921 starb Kropotkin, Zehntausende folgtem seinem Sarg. Es war
die größte Manifestation des russischen Anarchismus und gleichzeitig
sein Ende; bereits ein Jahr später saßen alle Anarchisten in
Gefängnissen, waren in Sibirien oder mußten das Land verlassen (Cattepoel,
1979: 107). |
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Diejenigen,
die mit Kropotkin Bekanntschaft machten, beschreiben ihn durchweg als
von bescheidenem und zurückhaltendem Wesen; Kropotkin hat niemals
Konsequenzen gescheut, wenn es galt, seine eigenen Überzeugungen zu
vertreten; er verzichtete dafür auf das väterliche Vermögen und wurde
dafür mehr als einmal verhaftet. Insbesondere aufgrund seines
Verzichtes auf die Vorteile seiner Abstammung und seines mehr als
bescheidenen Lebens wurde er zu einer Art Heiligen der Anarchie
stilisiert. Die Kehrseite dieses lobenswerten Charakterzuges war ein
gewisser Starrsinn in seinen Ansichten. Malatesta berichtet in seinen
Erinnerungen an Kropotkin, daß dieser "immer sicher war, im Recht
zu sein und nicht in Ruhe Widerspruch ertragen konnte (Malatesta, 1980:
58)." |
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