Kritik
Das induktive Vorgehen
"Ein großer Teil der wilden Völkerschaften tötet seine Kinder sofort nach der Geburt. Cook fand diesen Brauch auch auf allen Inseln der Südsee. Romulus erlaubte den Kindermord. Die Zwölftafelgesetze gestatteten ihn ebenfalls, und die Römer konnten bis auf Konstantin ihre Kinder straflos aussetzen. Es ist heute noch in China gebräuchlich, und man findet täglich in den Straßen und Kanälen Pekings mehr als zehntausend von den Eltern getötete Wesen."

Marquis de Sade zur "Natürlichkeit" des Kindermordes

 

In Kropotkins Versuch aus einer Sammlung einzelner Beispiele eine allgemeine Theorie abzuleiten, fällt zunächst eine gewisse Unklarheit und Vagheit in Begriffen und Definitionen auf; so ist etwa mal die Sprache von "Mutual Aid", mal wird von einem "Drang der gegenseitigen Unterstützung" geprochen, mal von einem "Geselligkeitstrieb", in durchaus divergierender Bedeutung verwendet werden sie als Synonyme ausgegeben. Diese Unklarheit der Definitionen ist eine allgemeine Schwäche in Kropotkins Werken, verlangt sie doch geradezu nach manipulativer Verwendung. Einer vorgeblichen objektiven Methode der Erkenntnisgewinnung steht sie in jedem Fall gegenüber.
Doch nicht nur Begriffe, auch Entwicklungsmechanismen und Tendenzen weisen sich durch eine bemerkenswerte Unschärfe aus: Wie ist das Aufkommen isolierter Familien genau zu erklären? Wer kooperiert miteinander? Sind dies alle Menschen oder lediglich die Mitglieder einzelner sozialer Subsysteme? Verschiedentlich klingt an, daß letzteres der Fall sei, etwa bei der Entstehung der Staaten, die letztendlich von Gruppen von militärischen Häuptlingen und Priestern gegen "den Willen der Massen" durchgesetzt worden seien (Kropotkin, 1994: 29 ff.). Warum wird diese Gruppenkooperation nicht näher untersucht? Viele Fragen bleiben unbehandelt, fokussiert er doch sein Erkenntnisinteresse zu sehr auf Mutual Aid.
Auch die der Induktion zugrundeliegenden Materialsammlungen entsprechen dieser eingeengten Sicht, erlauben also an für sich kein wissenschaftlich exaktes Vorgehen. Zwar muß berücksichtigt werden, daß zumindest "Mutual Aid" bewußt einseitig konzipiert war, dennoch baut er seine Folgerungen im wesentlichen darauf auf, und es fällt auf, daß Beispiele, die seinen Thesen widersprechen erstaunlich schnell "unter den Tisch fallen": Orang-Utans und Gorillas galten z.B. seinerzeit als Einzelgänger, schnell werden sie als "ein paar unzweifelhaft in Verfall geratene Affenarten (Kropotkin, 1993: 86, 87)"abgetan.

In seinen ethnologischen und historischen Beispielen scheint es so, als ob er manche Dinge im Hinblick auf seine These fehlinterpretiert, z.B. den vermeintlich geringen Fortschritt im letzten Jahrhundert oder das Bild der mittelalterlichen Städte Auf repressive Strukturen, wie etwa detaillierte Zunftvorschriften oder das Verhältnis zu Stadtobrigkeiten geht er nicht ein. War die Zunftorganisation tatsächlich der Initiative so förderlich und dementsprechend dem Fortschritt so förderlich wie er schreibt (vgl. hierzu auch Kieser, 1987: 60, 70 ff.)? Hug schreibt sicherlich mit Recht dazu:

"Kropotkins Interpretation der mittelalterlichen Stadt steht zwischen empirischer Aufarbeitung geschichtlicher Tatsachen mit dem Ziel der Beweisführung für die Theorie der gegenseitigen Hilfe einerseits und der Projektion gewisser Elemente seiner sozialen Utopie zum Zwecke ihrer Veranschaulichung andererseits (Hug, 1989: 28)."

der Eindruck der Beliebigkeit einer solchen Induktion drängt sich auf; paläo-ethnologische und historische Beispiele eigen sich in ihrem Interpretationsspielraum kaum dazu, definitive Antworten zu liefern, zumal dann, wenn eine im Hintergrund stehende Ideologie zu einseitiger Perzeption führt.
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