Kritik
Methodenwahl
Es wurde dargestellt, wie wichtig Kropotkin die induktiv-deduktive Methode zur Erkenntnisgewinnung war, und zwar für sämtliche Bereiche. Jeder anderen Art eines erkenntnistheoretischen Vorgehens als der naturwissenschaftlichen stand er abweisend gegenüber, ja man kann in seinen Schriften ungewöhnliche Erregung "heraushören", sobald er auf "jene schweren deutschen Metaphysiker" mit ihrer "subtilen Methode der Dialektik" oder gar auf "Intuition" zu sprechen kommt, dies alles ist für ihn "Geschwafel [...] moderner Witzbolde" (Kropotkin 1994b: 158 ff.). Die antimodernistischen Strömungen, die noch vor der Jahrhundertwende einsetzten, hat er - bewußt oder unbewußt - nicht mehr in seine Überlegungen einbezogen. Dies waren für ihn lediglich Versuche reaktionärer Kreise, den Fortschritt zu behindern oder gar rückgängig zu machen. Eine nicht-reaktionäre Kritik an der Moderne nahm er nicht wahr (Kropotkin, 1994: 15).
Er sieht nicht, daß die Flexibilität, die er in sämtlichen Bereichen für sämtliche Institutionen fordert, um dem ständigen Wandel der Umwelt gerecht zu werden, auch für wissenschaftliche Methodik gelten sollte und sich darüberhinaus "Wahrheitsgewinnung" nicht auf reine Methodologie beschränkt, sondern die dahinterstehende Wissenschafts- bzw. Erkenntnistheorie hinterfragt werden sollte. Heutzutage herrscht weitgehend Konsens darüber, daß auch die Erkenntnistheorie sich verändert, einer Evolution unterliegt und sie sich ihre Problematik keineswegs auf reine Methodologie beschränkt (vgl. hierzu insbs. Vollmer, 1981: 177 ff.).

Einer der Hauptvorwürfe, der ihm von anarchistischen Theoretikern - allen voran Max Nettlau - gemacht wurde, besteht darin, daß in seinem Anarchismus nicht konsequent genug verfahre, wenn er die Institution der Wissenschaft unangetastet lasse, ja sogar bestärke (Nettlau, 1981 nach Hug 1989: 133). Es ist in der Tat ein Paradoxon, daß ein Theoretiker, der sich jeglicher Einschränkung widersetzt und die freie Entfaltung des Individuums ohne Behinderungen durch Gesetze fordert, die strengen Regeln der Wissenschaft umso höher hält. Feyerabend sieht Kropotkin diesbezüglich in wohlfeiler Gesellschaft:

"Ibsen geht in der Demaskierung der menschlichen Verhältnisse seiner Zeit sehr weit - aber die Wissenschaft bleibt für ihn Maßstab der Wahrheit. Evans-Pritchard, Lévi-Strauss und andere haben erkannt, daß das 'abendländische Denken' keineswegs ein einsamer Gipfel der menschlichen Entwicklung ist, sondern mit Problemen zu kämpfen hat, die in anderen Ideologien fehlen - aber die Wissenschaft nehmen diese Autoren von ihren Relativierungen aller Denkformen aus. Auch für sie ist Wissenschaft eine neutrale Struktur, die positives Wissen enthält, das von Kultur, Ideologie, Vorurteil unabhängig ist (Feyerabend, 1976: 401)."

Die Methodik Kropotkins scheint den anarchistischen Inhalten nicht zu entsprechen. Aus mathematischer Deduktion resultieren autoritäre Inhalte; Kropotkin kommt zu einer einzigen richtigen Form einer zukünftigen Gesellschaft und läßt somit keinen Spielraum freiheitlicher Gestaltung. Seine Konsumverteilung "Jeder nach seinen Bedürfnissen" ist für ihn der einzig richtige Verteilmodus, naturwissenschaftlich-mathematisch deduziert und deswegen nicht kritisierbar. Den einzelnen sozialen Einheiten bleibt keine Wahlmöglichkeit, was einer beabsichtigten Selbstorganisation im Weg steht (Hug, 1989: 133). Diese autoritären Denkmuster zeigen sich auch in Kropotkins Sprachgebrauch: "[U]nzweifelhaft im Recht ist der Anarchismus ... (Kropotkin, 1994, S. 119)." Libertärer Inhalt resultierend aus autoritärem wissenschaftlichen Dogma stehen bei Kropotkin in krassem Widerspruch. Unter dem Aspekt der Warheitsgewinnung scheint Kropotkins Methodenmonismus unangebracht, doch da er so vorgeht, sind im folgenden drei Fragen zu klären: (A.) Geht er induktiv korrekt vor? (B.) Geht er deduktiv korrekt vor? (C.) Stehen hinter Methodenwahl und -anwendung, andere Motive, als das der Erkenntnisgewinnung?
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