Deduktion
Die freie Vereinbarung
Das Bedürfnis der Menschen nach Freiheit kann im Verständnis Kropotkins lediglich außerhalb jeglicher Hierarchie verwirklicht werden. Dies bedeutet für ihn keinen chaotischen gesellschaftlichen Zustand, den man anarchistischen Theoretikern gemeinhin unterstellt, denn an Stelle des Rousseauschen Gesellschaftsvertages tritt bei Kropotkin eine Vertragsform, die er als "freie Vereinbarung" bezeichnet, die wiederum auf einem menschlichen Grundbedürfnis, dem Geselligkeitsdrang beruht.
Das Bedürfnis nach Freiheit könne nur dann verwirklicht werden, wenn der Mensch "durch nichts anderes eingeschränkt sein wird, als durch seine eigenen sozialen Gewohnheiten und durch die Notwendigkeit, die jedermann fühlt, Zusammenwirkung, Unterstützung und Teilnahme bei seinem Nächsten zu finden (Kropotkin, 1887: 24)."
Bei den "freien Vereinbarungen" handelt es sich um ständig neu zu treffende mündliche Abmachungen; entscheidend ist dabei, daß diese Verträge auf freiwilligen Entschlüssen beruhen und eine Kontrolle der Einhaltung nicht durch übergeordnete Instanzen erfolgt, sondern durch die Beteiligten selbst. Die Grundlage des Systems bildet der Drang nach Geselligkeit, nicht nur indem er die einzelnen Individuen motiviert, ihre Abmachungen einzuhalten, sondern auch, weil er durch einen eventuellen Ausschluß bzw. einer Isolation zur Sanktionierung unsozialen Verhaltens genutzt werden kann. Die Kontrolle erfolgt in solchen Fällen durch "die öffentliche Meinung" (Kropotkin, 1989: 98 ff.).
Kropotkin geht in diesem Zusammenhang auf eine Reihe von Beispielen ein, in denen solche Abmachungen bereits ohne Regelung einer übergeordneten Instanz unter seinen Zeitgenossen wirksam seien, obwohl das herrschende Gesellschaftssystem den Individualismus fördere: u.a. die Eisenbahnen:
"Man weiß, daß Europa ein ungeheures Schienennetz besitzt, und daß man heute auf diesem Eisenbahnnetz nach Belieben reisen kann - von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, von Madrid nach Petersburg und von Calais nach Kostantinopel - ohne angehalten zu werden, ohne selbst den Wagen zu wechsel. [...] Dieses Resultat konnte auf zwei Wegen erreicht werden. Ein Napoleon, ein Bismarck, irgend ein Potentat, der Europa erobert hatte, könnte auf einer Karte von Paris, Berlin oder Rom aus die Richtungen der Linien verzeichnen und dann die Fahrtzeiten der Züge regeln. [...] Das wäre das eine Mittel; doch man hat ein anderes gewählt. [...] Dies alles ist durch die freie Vereinbarung zustande gebracht worden, durch den Austausch von Briefen und Vorschlägen, durch Kongresse, zu denen die Delegierten kamen, um diese oder jene Spezialfrage zu diskutieren - doch nicht um Gesetze zu beschließen. Nach dem Kongreß kehrten sie zu ihren Gesellschaften zurück nicht mit einem Gesetz, sondern mit einem Vertragsentwurf, den man annehmen oder verwerfen konnte (Kropotkin, 1989: 99, 100)."
Bemerkenswert ist für Kropotkin, daß es keine zentrale Eisenbahnbehörde gibt und sich dennoch unzählige Eisenbahngesellschaften - allein in England gab es zu seiner Zeit über 100 - auf ein gemeinsames Streckennetz einigten, genauso, wie man auch einen Brief in der ganzen Welt versenden könne, ohne, daß es eine Weltpostbehörde gäbe. Die Vertragsform der freien Vereinbarung sieht er auch in den schon bekannten Beispielen diverser Vereine und Genossenschaften wirken, als historisches Beispiel dienen ihm erneut die Gilden.

Aber auch unter vergleichsweise rücksichtslosen Zeitgenossen würden solche Vereinbarungen bereits getroffen und auch eingehalten. Als Beispiel dienen ihm Börsenmakler, die sämtliche Geschäfte mit Handschlag besiegeln und diese dennoch einhalten, einfach aus dem Interesse heraus, auch in Zukunft noch innerhalb der jeweiligen sozialen Einheit Geschäfte tätigen zu können.

Das Interesse einer Einhaltung resultiert also einerseits aus einem beiderseitigen Gewinn einer Kooperation, andererseits aus Angst vor eventuellem Gruppenausschluß (Kropotkin, 1989: 98 ff.).

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