Prozeß der Institutionalisierung
Die frühen Menschen 
Kontrolle durch öffentliche Meinung
Auch hier ist Kropotkin darauf bedacht, dem Bild, das Huxley von den frühen Menschen zeichnet, seine Auffassung entgegenzusetzen. Huxley und die übrigen Sozialdarwinisten wollten nur innerhalb der "begrenzten und vorübergehenden Familienbeziehung" eine Milderung des "Krieges aller gegen alle" durch soziale Verhaltensweisen gelten lassen. Diese kleinen isolierten Familien seien wie Raubtierfamilien umhergestreift, und hätten sich gegenseitig bekämpft (Huxley, 1993: 302). In Einklang mit einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern seiner Zeit widerlegt Kropotkin diese These. Aus den archäologischen Funden, die Werkzeuge und Waffen in jeweils großer Anzahl an einer Fundstelle erbrachten, und den Rekonstruktionen von Höhlenwohnungen sowie der frühen Pfahlbauten, schließt er darauf, daß Menschen immer schon in Gesellschaften zusammengelebt hätten (Kropotkin, 1993: 86-89). Um genauere Kenntnisse über die Organisation des Zusammenlebens zu erhalten, bedient sich Kropotkin einer indirekten Methode, der komparativen Paläo-Ethnologie. Er untersucht zu seiner Zeit existierende Stämme und Völker, die in ihrer Entwicklung auf einer vergleichbar niedrigen Stufe, wie die frühen Menschen, stehen: Die Urmans in Nordwestsibirien, die Buschmänner, die Hottentotten, die Ostjaken, die Eskimos, die Samojeden, die Dayaks, die Aleuten, die Papuas, die Sioux usw. (Kropotkin, 1993: 94 ff.). Er unterstellt dabei, ohne dies jedoch explizit zu nennen, eine monolineare Entwicklung verschiedener Kulturen; er nimmt an, daß sich verschiedene Völker lediglich zeitlich verschoben entwickeln, die Richtung und die Art der Entwicklung jedoch kulturübergreifend universell verläuft (vgl. hierzu auch Kropotkin, 1921).

Bei den Völkern, die er als Beispiele für eine niedrige Entwicklungsstufe anführt, diagnostiziert er Gemeinsamkeiten, die er im Einklang mit seinen Folgerungen zu den archäologischen Funden sieht, und aus denen er zu einem anderen als dem sozialdarwinistischen Bild der frühen Menschen kommt; so ist die Horde oder der Clan für ihn die verbreitetste Organisationsform. Innerhalb des Clans habe Gemeinbesitz vorgeherrscht, Beute sei zumeist geteilt worden, die Familie habe sich erst in späteren Perioden innerhalb der Clans herausgebildet (Kropotkin, 1993: 92 ff.):

"Weit entfernt, eine primitive Form der Organisation zu sein, ist die Familie vielmehr ein sehr spätes Produkt menschlicher Entwicklung. Soweit wir in der Paläo-Ethnologie der Menschheit zurückgehen können, finden wir Menschen, die in Gesellschaft leben - in Stämmen ähnlich denen der höchsten Säugetiere; und eine äußerst langsame und lange Entwicklung war erforderlich, um diese Gesellschaft zur Gentil- oder Clanorganisation zu bringen, die ihrerseits wiederum eine andere, auch sehr lange Entwicklung durchmachen mußte, ehe die ersten Keime der Familie [...] auftreten konnten. Gesellschaften, Horden oder Stämme - nicht Familien - waren also die ursprüngliche Form der Organisation der Menschheit und ihrer frühesten Vorfahren (Kropotkin, 1993: 86)."

In der seiner Meinung nach ursprünglichen Gentil- oder Clanorganisation sieht Kropotkin keinen "ungezügelten Individualismus", dieser ist für ihn eine moderne Erscheinung; den frühen sozialen Gebilden unterstellt Kropotkin lediglich eine einzige Form der Gewalt: die öffentliche Meinung, für ihn ein Beweis, "wie tief selbst auf ihren untersten Stufen die sozialen Instinkte in der Menschennatur eingewurzelt gewesen sein müssen (Kropotkin, 1993: 93, 95)."
Bei der Darstellung des Materials, mit dem Kropotkin Mutual Aid in der Menschheitsgeschichte dokumentiert, untersucht er auch eine Reihe von Sachverhalten, die von Sozialdarwinisten zum Beweis ihrer Thesen herangezogen wurden; die Frage des Kannibalismus, des Kindermordes und das Aussetzen von Greisen. Alles Sitten, die er bei weitem nicht so weit verbreitet sieht, wie es von den Darwinisten seiner Zeit geschildert wurde. Kannibalismus sieht er religiös motiviert, bezüglich Kindesmord und dem Aussetzen von Greisen folgert er, daß diese Tatsachen nur in Verbindung mit den äußerst harten Umweltbedingungen, denen diese Menschen ausgesetzt seien, zu sehen sein könne; wenn Säuglinge getötet würden, nur wenn sichersteht, daß sie nicht zu ernähren seien, und selbst dann nur mit großem Klagen und keineswegs kaltbütig; die Greise hingegen würden das Aussetzen oftmals selber wählen, wenn sie merkten, der Gemeinschaft zur Last zu fallen - "Ich lebe den anderen das Leben weg: es ist Zeit zu gehen", zitiert Kropotkin einen offenbar verbreiteten Spruch russischer Bauern seiner Zeit - er sieht eben darin eine große Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, und nicht, wie die Sozialdarwinisten, einen Beweis für die Grausamkeit dieser Menschen (Kropotkin, 1993: 105 -115).
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