Prozeß der Institutionalisierung
Die Dorfmark der Barbaren
Als nächsthöhere zivilisatorische Entwicklungsstufe behandelt Kropotkin die Barbaren; wiederum ist er bemüht, das Bild seiner Zeit von dieser Epoche zu modifizieren. Die Vorstellung sich ständig bekriegender Stämme und Clans entstand seiner Meinung nach durch die "ausgesprochene Vorliebe der meisten Historiker für die dramatischen Momente der Geschichte (Kropotkin, 1993: 119)". Vom friedlichen Alltagsleben der Barbaren würde kaum Notiz genommen. Die wesentliche institutionelle Neuerung in dieser Zeit, und gleichzeitig der Ursprung moderner Institutionen, ist für Kropotkin die Dorfmark. Diese sei entstanden, um den Drang nach Geselligkeit unter veränderten Umweltbedingungen zu befriedigen: Zum einen ermögliche die Institution der Dorfmark im Gegensatz zu den Clans ein Zusammenleben einer größeren Gemeinschaft, trotz des Aufkommens separater Familien, zum anderen habe in der Epoche der Völkerwanderung die Möglichkeit bestehen müssen, Immigranten zu integrieren, was innerhalb der Mark ebenfalls besser möglich sei, als innerhalb eines Clans. Da Kropotkin die Völkerwanderungen auf glaziale Veränderungen und Austrocknungen zurückführt, stellt er erneut einen engen Zusammenhang zwischen Natur- und Humangeschichte her (Kropotkin, 1993: 147 ff.).
Um die Besonderheiten der Dorfmark festzustellen, bedient er sich erneut, diesmal allerdings neben einer Vielzahl historischer Quellen, der vergleichenden Ethnologie. Für ihn gibt es gemäß seiner monolinearen Evolutionsauffassung keine einzige Kultur, die nicht ihre Periode der Dorfmark gehabt habe (Kropotkin, 1993: 124); auf einer ähnlichen Zivilisationsstufe und damit auch in ähnlicher organisatorischer Form sieht er unter seinen Zeitgenossen die mongolischen Buriaten, die Kabylen, diverse afrikanische Stämme, kaukasische Bergvölker usw.. Folgende Charakteristika der Dorfmark stellt er fest:
1 Die Dorfmark begründe sich im Gegensatz zum Clan auf einen Territorialbegriff, was eine flexiblere Mitgliedschaft ermögliche, als vorherige Institutionen. Notwendig wäre dies insbesondere gewesen, um die zahlreichen Immigranten der Völkerwanderungen zu integrieren und weiterhin einen Zusammenhalt trotz des Aufkommens isolierter Familien zu gewährleisten (Kropotkin, 1993: 121, 147). Es ermögliche auch die allmähliche Ausdehnung des Menschenkreises, den die Gemeinschaft bildet, und gleichzeitig eine Innendifferenzierung, indem es dem einzelnen Individuum mehr Spielraum läßt; erste föderative Strukturen würden sich bilden; Dorfmarken vereinigten sich zu Stämmen und diese zu Völkern (Kropotkin, 1993: 125, 135 ff.).
2 Die Dorfmark kennt Privatbesitz, allerdings sei dieser nur auf wenige persönliche Gegenstände beschränkt, Privatbesitz an Boden habe es nicht gegeben. Die Bewirtschaftung des Landes und die Jagd erfolgten nach wie vor hauptsächlich gemeinschaftlich, konsumiert würde allerdings zunehmend innerhalb der Familien in separaten Hütten, die Tradition des gemeinsamen Mahles bliebe lediglich - und dies bis in die Neuzeit - bei Festen und Feiern bestehen (Kropotkin, 1993: 126-129).
3 Die öffentliche Gewalt ist die Volksversammlung, an welcher in der Regel alle Ewachsenen teilnehmen, und in welcher gemeinsam über Landverteilung und Arbeitsbeiträge entschieden würde (Kropotkin, 1993: 140 ff.). Alle Verträge sowie auch die Überlieferung der Institutionen erfolgten mündlich, das gesprochene Wort habe eine solche Bedeutung, daß es nur sehr selten zu Vertragsbrüchen käme, in Streitfällen würden Vermittler gestellt (Kropotkin, 1993: 131, 145).
Einige der Eigenschaften der Dorfmark deuteten bereits auf die späteren Zünfte hin, etwa eine Schutzverpflichtung gegenüber den Mitgliedern auch außerhalb des Territoriums der Mark (Kropotkin, 1993: 142, 143).

Die institutionelle Neuerung der Dorfmark geht für Kropotkin einher mit einem umfassenden Forschritt in sämtlichen Lebensbereichen, ein Beweis, wie gut sie den "sozialen Instinkten" entspreche:

"[D]ie Landwirtschaft erreichte eine Stufe, die sie in den meisten Fällen heute noch kaum verlassen hat; die Hausindustrien gediehen zu hoher Vollkommenheit. Die Wildnis wurde erobert, von Staßen durchschnitten, und überall von Ansiedlern besetzt, die sich aus den ursprünglichen Gemeinschaften entfernt und neue gegründet hatten. Märkte und befestigte Punkte, ebenso wie Stätten des öffentlichen Kultus, wurden errichtet (Kropotkin, 1993: 148)."

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