Prozeß der Institutionalisierung
Die mittelalterlichen Gilden
Nach der Epoche der Dorfmarken kommt es mit dem Entstehen der Feudalherrschaft nach Kropotkin zu einem Rückschritt im Prozess der Institutionalisierung. Als treibende Kraft dabei sieht er interessanterweise erneut das Bedürfnis der Menschen nach Kooperation; zum einen sei dadurch, daß das Gewohnheitsrecht verschiedener Marken voneinander abwich, Bedarf an Vermittlung bei übergreifenden Konflikten entstanden, und damit der Grundstein zu einer eigenständigen Exekutive gelegt worden, zum anderen seien durch die sich herausbildende Aufgabenteilung militärische Häuptlinge entstanden, die ihre Macht mißbraucht hätten, um Reichtum anzuhäufen und Menschen zu versklaven (Kropotkin, 1993: 151-154; 1994: 28 ff.).
Nach Kropotkins Darstellung kam es in den mittelalterlichen Städten zu einer Entfaltung des sozialen Lebens, als es diesen gelungen sei, sich von der feudalen Herrschaft zu befreien; die entstandenen freien Städte sieht er als direkte Nachfolger des Prinzipes der Dorfmark (Kropotkin, 1993: 157-161).
"Indessen war außer dem Prinzip der Dorfmark noch ein anders Element erforderlich, um diesen wachsenden Mittelpunkten der Freiheit und der Aufklärung die Einheit des Denkens und des Handelns und die Macht der Initiative zu geben, die im 12. und 13. Jahrhundert ihre Stärke ausmachte. Mit der wachsenden Verschiedenartigkeit der Beschäftigungen, Handwerke und Künste, und mit dem wachsenden Handel in entfernten Ländern bildete sich die Notwendigkeit einer neuen Vereinigungsform heraus, und dieses neue Element waren die Gilden (Kropotkin, 1993: 162)."
Der Hauptgrund für den Bedarf an einer neuen Organisationsform sieht Kropotkin in der zunehmenden Arbeitsteilung in der Gesellschaft, dies erfordere eine zweckorientiertere Vereinigungsform als die auf dem Territorialprinzip gründende Dorfmark, welches allerdings in der Einteilung der Stadt in verschiedene Sektionen erhalten bliebe. Die politische Struktur der mittelalterlichen Städte war nach Kropotkin in einer zweifachen Weise dezentralisiert: Es habe die Verbindungen auf der Grundlage territorialer Einheiten (Stadtviertel) gegeben, in der Tradition der Dorfmark, überlagert wurden diese durch wirtschaftliche bzw. berufliche Zusammenschlüsse: die Gilden (Kropotkin, 1993: 169). In diesen sieht er eine neue Stufe der Institutionalisierung erreicht und gleichzeitig eine hierarchielose Modellorganisation gegenseitiger Hilfe schlechthin, sämtliche Mitglieder hätten den gleichen Rang gehabt. Zentral sei die Selbstständigkeit der Gilden, die in einer eigenen Gerichtsbarkeit und der Selbstverwaltung Ausdruck finde (Kropotkin, 1993: 158, 170). Da Gilden die Grundelemente seien, aus welchen sich die föderative Struktur der Stadt zusammengesetzt habe, hätte es diese dementsprechend für alle nur erdenklichen Lebensbereiche u.U. auch als zeitlich begrenzte Institution, und nicht nur die überwiegend bekannten Handwerksgilden gegeben (Kropotkin, 1993: 164):
"Gilden, die zu den besonderen Zwecken der Jagd, des Fischfangs oder für eine Handelsexpedition gegründet und nach Vollendung des besonderen Zweckes wieder aufgelöst wurden, und Gilden, die in einem bestimmten Handwerk oder Gewerbe Jahrhunderte dauerten. Und einen größeren Aufschwung die Mannigfaltigkeit der Berufe nahm, um so mehr wuchs die Verschiedenartigkeit der Gilden. So sehen wir nicht nur Kaufleute, Handwerker, Jäger und Bauern in Gilden vereinigt, wir sehen auch Gilden von Priestern, Malern, Elementar- und Universitätslehrern, Gilden zur Pflege des Spiels, zum Kirchenbau, zur Überlieferung des "Geheimnisses" einer bestimmten Kunst- oder Handwerksschule oder für eine besondere Festveranstaltung - selbst Gilden von Bettlern, Henkern und gefallenen Frauen, alle auf demselben Doppelprinzip der eigenen Gerichtsbarkeit und des gegenseitigen Beistandes aufgebaut (Kropotkin, 1993: 166)."

Die Arbeiter einer Gilde sah Kropotkin hochmotiviert. Da die Gilde als gemeinsamer Käufer der Produktionsfaktoren und als gemeinsamer Verkäufer der Produkte aufgetreten sei, habe der einzelne Handwerker nicht für einen "unbekannten Käufer" bzw. für einen unbekannten Markt gearbeitet, sondern

"er produzierte zunächst für seine Gilde; für seine Brüderschaft von Männern, die einander kannten und die die Technik ihrer Gewerbe kannten, die, wenn sie den Preis irgendeines Produktes nannten, die Geschicklichkeit würdigen konnten, die bei seiner Herstellung aufgewandt wurden oder die Arbeit, die dabei geleistet wurde. [...] Bei einer solchen Organisation war es der Ehrgeiz jedes Handwerkers keine Produkte von minderer Qualität zu liefern[...] (Kropotkin, 1993: 182, 183)."

Vieles, was seine Zeitgenossen als utopisch betrachteten, sei in der damaligen Organisationsform bereits Wirklichkeit gewesen: Freude an der Arbeit, eine 48 Stunden Woche und "der Halbfeiertag am Samstag" seien alte mittelalterliche Institutionen gewesen (Kropotkin, 1993: 184, 185).
Die Vorteile der Gilden als Organisationsform, die Kropotkin gegenüber den vorherigen Vereinigungsformen ausmacht, liegen erneut in größerer Flexibilität gegenüber vorherigen Einrichtungen (Kropotkin, 1993: 201 ff.). Die Dorfmark erlaube eine flexiblere Mitgliedschaft als der Stamm oder die Horde, die Gilde erlaube nun eine flexiblere Einteilung der Arbeit, ermögliche gleichzeitig, durch die Einbettung in die föderative Struktur der mittelalterlichen Stadt, die Vereinigung von zunehmend mehr Menschen. Die Institutionen differenzierten sich weiterhin aus. Da die Gilden durch eigene Gerichtsbarkeit und Selbstverwaltung autarke Systeme darstellten, hätten sie die Fähigkeit der Selbstregulation. Um sich auf veränderte Umweltbedingungen einzustellen, bedürfe es keiner übergeordeten Institution eines Staates, zumal alle Betätigungen einer Gilde den Vorteil hätten, daß sie ein "humanes brüderliches Element" beinhalteten, anstelle des formalen (Kropotkin, 1993: 168), Stadt und Gilden seien organisch, "natürliche Gewächse" (Kropotkin, 1993: 178, 186).
Der Niedergang der mittelalterlichen Städte hat für Kropotkin äußere Faktoren, die zunehmend die Kooperationsbereitschaft ausgehöhlt hätten. Hauptsächlich das Aufkommen von Staaten mit starken Zentralgewalten - die er aus Städtebünden entstehen sieht, denen wiederum ursprünglich das menschliche Bedürfnis nach Vereinigung zugrundeliegt - daneben hebt er jedoch die Bedeutung systemimmanenter Widersprüche hervor: Der Anspruch auf Gleicheit aller Gruppen sei nicht eingelöst worden, man unterschied z.B. zwischen "Einwohnern" und "Bürgern" und die alleinige Betonung von Handel und Industrie sowie die Vernachlässigung der Landwirtschaft habe zu einem Stadt-Land-Gefälle geführt und zu einer repressiven Politik den Bauern gegenüber (Hug, 1989: 26; Kropotkin, 1993: 202 ff.).
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