Prozeß der Institutionalisierung
Kropotkins Zeit - Genossenschaften und Vereine
Die entstehenden Staaten kommen nach Kropotkin dem Bedürfnis des Menschen nach gegenseitiger Unterstützung nicht entgegen; eine zentrale Verwaltung sei allerorts nur mit brutalster Gewalt gegen diverse Volksaufstände durchsetzbar gewesen. Auch die Reformation war seiner Ansicht nach nicht nur eine Erhebung gegen die Mißstände in der katholischen Kirche, sondern habe ein konstruktives Ideal gehabt - das Leben in freien brüderlichen Gemeinschaften (Kropotkin, 1993: 208 ff.). Gegen den Willen der Mehrheit seien die zentralistischen Staaten jedoch durchgesetzt worden, und hätten im folgenden alles unternommen, die vorhandenen Institutionen gegenseitiger Hilfe zu vernichten. Zünfte seien verboten, Gemeinbesitz in Dorfmarken systematisch privatisiert, Bünde unter Bürgern strengstens geahndet worden, um nur keinen "Staat im Staate" entstehen zu lassen. (Kropotkin, 1993: 210 ff.).
Trotz aller dieser Maßnahmen sieht Kropotkin auch unter seinen Zeitgenossen die Tendenz, Institutionen der gegenseitigen Hilfe zu etablieren. In ländlichen Gemeinden sei das Prinzip der Dorfmarken mit ihren Gemeinbesitz nach wie vor weit verbreitet, hierbei kommt er ausführlich auf den russischen Mir zu sprechen, auch die Gemeinden der Schweiz seien, mit ihren Volksversammlungen und ihrer Selbstverwaltung, diesbezüglich vorbildlich organisiert (Kropotkin, 1993: 215 ff., 220 ff.). Gemeinbesitz in Dorfgemeinden sei auch nach wie vor in Frankreich, Italien, Deutschland, Dänemark usw. vorhanden, und wo dieser vorhanden sei, hätten sich auch Sitten und Gebräuche der gegenseitigen Unterstützung bewahrt.
Institutionelle Ausprägungen des Gemeinschaftsgefühls sieht Kropotkin z.B. in Genossenschaften oder Syndikaten, die die Aufgabe haben, gemeinschaftlich Dünger und Samen zu erwerben oder maschinelle Anschaffungen wie Wasserpumpen zu finanzieren, die dann vom gesamten Dorf genutzt werden können (Kropotkin, 1993: 227 ff.). Sobald die Restriktionen des Staates gegen solche Zusammenschlüsse nachließen, würden "Netzwerke freier Verbände zu allen möglichen wirtschaftlichen Zwecken sich schnell unter den Bauern verbreite[n] (Kropotkin, 1993: 240)."
Doch nicht nur in der Landwirtschaft, auch in den übrigen Bereichen würden neue Vereinigungsformen entstehen, sobald der Staat den Drang der Menschen nach Vereinigung und gegenseitiger Unterstützung nicht mehr unterdrücke; Gewerkschaften, politische Vereine, Stiftungen, Rettungsbootsgesellschaften, Sportvereine usw.. In Deutschland hebt Kropotkin besonders den Fröbelverein, der das System der Kindergärten einführte, und die "Kegelbrüder" hervor; obwohl die Mitglieder eines solchen Vereines nichts als z.B. die Liebe zum Kegeln oder Radfahren gemein haben, "gibt es doch unter ihnen eine Art Freimaurerei gegenseitiger Hilfe (Kropotkin, 1993: 250 ff., 254)". Nach und nach würden solche Institutionen ihre Aktivitäten ausdehnen, international werden "und tragen [damit] ohne Zweifel, in einem Maße, das jetzt noch nicht völlig übersehen werden kann, dazu bei, Wälle niederzureißen, die von den Staaten zwischen den verschiedenen Völkern aufgerichtet worden sind (Kropotkin, 1993: 256)". Daneben weist Kropotkin noch auf die Art der Unterstützung hin, die nicht in Institutionen ihren Niederschlag findet, persönliche Freundschaft, Nachbarschaftshilfe etc.; freundschaftliche Darlehen, kleine Hilfeleistungen und Schenkungen hätten einen enorme volkswirtschaftliche Bedeutung (Kropotkin, 1993: 264).
"All diese Tatsachen zeigen, daß eine rücksichtslose Verfolgung persönlicher Interessen, ohne sich um die Bedürfnisse anderer Menschen zu kümmern, nicht das einzige Kennzeichen des modernen Leben ist (Kropotkin, 1993: 257)."
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