Prozeß der Institutionalisierung
Tendenzen in der Institutionalisierung
Kropotkin stellt zwei Grundbestrebungen des Menschen fest, die nach Geselligkeit - die Kropotkin für noch stärker als den Selbsterhaltungstrieb hält - aber auch die nach Individualität. Letztere manifestiere sich in der zunemenden Innendifferenzierung der Institutionen, welche mit dem Aufkommen separater Familien innerhalb der Horde ihren Anfang genommen hätte. Diejenigen Institutionen in der Menschheitsgeschichte, die es verstanden hätten, beiden Trieben möglichst gut zu entsprechen, hätten sich als die vorteilhafteren gezeigt. Er sieht die Tendenz zu immer größeren Zusammenschlüssen, die dem Drang nach gegenseitiger Hilfe entgegenkommen, bei gleichzeitiger Verringerung der Gruppengrößen der einzelnen Subsysteme. Dies ermögliche nicht nur eine Befriedigung des Dranges nach Individualität, sondern verstärke auch den Drang, sich gegenseitig zu helfen durch den entstehenden engeren Kontakt (Kropotkin, 1993: 258).
Es wurde bereits verschiedentlich angesprochen, daß Kropotkin die Fortschrittlichkeit einer bestimmten Organisationsform, wie etwa der Dorfmark oder der Gilde, nicht zuletzt daraus ableitet, daß von diesen ein erheblicher Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Zivilisation ausgegangen sei. Das Prinzip der Dorfmark sieht er u.a. auch im antiken Griechenland wirken. Den großen Aufschwung des Handwerkes, der Künste und der Wissenschaften in den freien Städten, der für Kropotkin nicht zuletzt in den gigantischen Sakralbauten seinen Ausdruck findet, führt er nicht auf einzelne intellektuelle Fähigkeiten zurück, sondern auf die freiheitliche, die individuelle Initiative stärkende Organisation des Soziallebens zurück (Kropotkin, 1993, S. 188-200, 209, 269).

Die Hierarchie bzw. ihre Manifestation in den Zentralstaaten seiner Zeit ermöglichten deswegen keine fortschrittliche Entwicklung. Großen Wert legt Kropotkin auf die psychologischen Auswirkungen, die Menschen von Verantwortung entbinde, wodurch der Individualismustrieb fehlgeleitet würde, statt individueller Initiative ergebe sich ein ungezügelter, geistig beschränkter Egoismus (Kropotkin, 1993: 211):

"In der Gilde [...] waren zwei 'Brüder' verpflichtet, abwechselnd bei einem Bruder zu wachen, der krank geworden war; jetzt war es genügend, seinem Nächsten die Adresse des nächsten Armenhospitals anzugeben. Wenn jemand in barbarischen Zeiten einem [...] Kampf zwischen zwei Männern beiwohnte und einen ernsthaften Ausgang nicht verhütete, so wurde er selbst als Mörder behandelt; aber nach der Theorie vom alles beschützenden Staat durfte der Unbeteiligte sich nicht einmischen; dazwischen zu treten oder nicht, ist das Amt des Polizisten. Und während es in einem wilden Land, bei den Hottentotten, eine Schande wäre, zu essen, ohne dreimel laut gerufen zu haben, ob nicht jemand da sei, der das Mahl zu teilen wünsche, besteht jetzt alles, was der achtbare Bürger zu tun hat, darin, seine Armensteuer zu zahlen und den Verhungernden verhungern zu lassen (Kropotkin, 1993: 211, 212)."

Doch neben diesen menschlichen Bedürfnissen müssen Institutionen nach Kropotkin vor allem - und dies eine Implikation direkt aus der Evolutionstheorie - dem ständigen externen Wandel der Natur gerecht werden. Flexibilität sei höchstes Gebot (vgl. hierzu auch Eltzbacher, 1987: 127). Es kristallisieren sich - ohne, daß man dem deduktiven Teil vorausgreifen würde - für Kropotkin kleine soziale Einheiten heraus. Diesen stand jedoch ein weiteres Entwicklungsgesetz entgegen, von dessen Gültigkeit Kropotkins Zeitgenossen überzeugt waren, das der zunehmenden Konzentration in der Industrie, die zwingende Entwicklung hin zur Massenindustrie.
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