Widerlegung des Konzentrationsgesetzes
Theoretiker sämtlicher politischer und ideologischer Richtung waren zur Jahrhundertwende davon überzeugt, daß mit fortschreitender Industrialisierung notwendigerweise eine Konzentration in der ökonomischen Organisation und damit der Niedergang des handwerklichen Paradigmas einhergehe.
1899 veröffentlicht Kropotkin seine ausführlichen empirischen Untersuchungen über die Konzentration in der Industrie, sein fundiertestes ökonomisches Werk, unter dem Titel: "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk". Er untersucht darin ausführlich die Konzentration der Industrie in England, Frankreich und Deutschland; anhand der Fabrikgröße, der Angestelltenzahl und einer Fülle weiterer statistischer Daten, für verschiedene Branchen, hauptsächlich jedoch Stahl und Textil. In seinen Ergebnissen sieht Kropotkin das Gesetz der Konzentration, die Tendenz zu immer größeren Fabriken, widerlegt.
Die Bedeutung der Kleinbetriebe, bzw. von Kropotkin weitgehend synonym verwendet der Handwerksbetriebe, schwankt zwar von Branche zu Branche, besondere Konzentration stellt er im Minenwesen, beim Schiffsbau und in der chemischen Industrie fest, dennoch erfolge nach wie vor ein großer Teil der Poduktion selbst in diesen Branchen in kleinen und Kleinstbetrieben (Kropotkin, 1989: 118). Bezogen auf die gesamten Volkswirtschaften stellten die Kleinbetriebe immer noch den bedeutendsten Teil der Produktion her. Das Aufkommen der Großbetriebe verhindere nicht das Fortbestehen einer großen Zahl kleinerer Betriebe, deren Größe nach Kropotkins Untersuchung nur sehr langsam, wenn überhaupt steigt (Kropotkin, 1921: 111 ff., 116, 126). Eine Krise der Handwerksbetriebe vermag er nicht zu erkennen; eines von vielen Beispielen: Die schweizer Uhrenmacher. Von vielen Ökonomen wurde diesen offenbar das Ende vorhergesagt, als es möglich wurde, Uhren mechanisch herzustellen, doch insbesondere durch die Fabrikation erstklassiger Uhren hätten diese Handwerksbetriebe ihre Existenz sichern können. Ähnlich argumentiert Kropotkin für die Seidenweberei in Lyon, die Messerindustrie in Sheffield usw.. Überall sieht er die Kleinbetriebe fortbestehen, oft in verzweifelter Lage mit weitaus längeren Arbeitszeiten als Fabrikangestellte, dennoch zögen die Menschen ein Engagement innerhalb dieser Institutionsform einem innerhalb eines Großbetriebes vor.

Die Druckerei Lahore 1868

Vor- und Nachteile der Kleinindustrie

Diese Feststellung veranlaßte Kropotkin, die Vor- und Nachteile der Kleinindustrie zu untersuchen. Dabei geht er erneut über rein wirtschaftliche Aspekte hinaus; die Kleinindustrie stellt für ihn in erster Linie deswegen eine überlegenere Wirtschaftsform dar, weil in ihr wesentliche menschliche Bedürfnisse im Arbeitsbereich besser befriedigt werden können; zum einem entspreche diese Form dem Gemeinschaftssinn weitaus besser als die anonyme Fabrik, zum anderen würden in Kleinbetrieben seiner Ansicht nach "Geist und Initiative" geweckt:

"Diese kleinen Werkstätten, von denen die künstlerischen Fertigkeiten und Schnelligkeit der Arbeit so sehr gepriesen werden, regen notwendigerweise die Geisteskräfte der Arbeiter an. Und dessen können wir sicher sein, wenn die Pariser Arbeiter im allgemeinen für geistig entwickelter gelten, und dieses tatsächlich mehr als die Arbeiter in irgend einer anderen europäischen Hauptstadt sind, daß das in weitem Maße dem Charakter ihrer Arbeit zu verdanken ist, einer Arbeit, die künstlerischen Geschmack, Geschicklichkeit und vor allem erfinderisch begabte Menschen verlangt, die immer bestrebt sind, neue Muster zu entdecken und die technischen Produktionsmethoden zu vermehren und zu verbessern (Kropotkin, 1921: 142)."

Durch den "Geist der Initiative", der in kleinen Betrieben erhalten bleibt und durch die vergleichsweise flexiblen Strukturen sind die Handwerksbetriebe nach Kropotkins Untersuchung wesentlich anpassungsfähiger und innovativer. Technische Neuerungen würden schneller aufgenommen, und die Produktvielfalt sei wesentlich größer (Kropotkin, 1921: 117, 141, 159).

Großbetriebe haben für Kropotkin in der Produktion keine technischen Vorteile, zudem seien

"viele große Fabriken nichts anderes, als Ansammlungen verschiedener besonderer Industrien unter gemeinsamer Leitung, und wieder andere sind nur Hunderte von Wiederholungen der gleichen Maschine. Das sind die meisten Spinnereien und Webereien. [...] Es sind die vorteilhafteren Bedingungen für den Einkauf der Rohmaterialien und den Verkauf der Erzeugnisse, die von großen Verbänden besorgt werden, die gegen die Kleinindustrien zugunsten der Fabriken wirken (Kropotkin, 1921: 158, 149)."

Die Nachteile im Ein- und Verkauf sind seiner Meinung nach leicht durch genossenschaftliche Zusammenschlüsse auszugleichen, die auch die Anschaffung größerer Investitionsgüter ermöglichten, als Beispiel nennt er erneut die Klingenhersteller in Sheffield, wo mehrere kleine Firmen eng beianander Werkstätten eingerichtet hätten, die von einer großen Dampfmaschine mit mechanischer Kraft versehen wurden (Kropotkin, 1921: 108, 127, 149 ff.).
Bei der Energieversorgung sieht Kropotkin in der Zukunft eine wichtige Rolle für kleine noch zu entwikelnde Elektromotoren, die sich jeder Handwerker leisten könne. Solche technischen Neuerungen ermöglichten es, daß die Dezentralisierung weiter schreitet; am Ende dieser Entwicklung glaubt er gar in jedem Haus eine kleine Werkstatt mit eigenen Motoren, in denen sich der Arbeiter seine Zeit nach Gutdünken einteilen kann - das Aquivalent zu heutigen Telearbeitsplätzen (Kropotkin, 1921: 137, 151).

Von einem Gesetz der Konzentration kann demnach keine Rede sein; Kropotkin stellt sogar fest, daß die Großbetriebe der Kleinindustrie dringend benötige, daß "in ihrem Schatten" eine ganze Reihe neuer, kleiner Betriebe entstehe:

"Jede neue Fabrik ruft eine Anzahl kleiner Werkstätten ins Leben, zum Teil um der Fabrik die eigenen Bedarfsartikel zu liefern, zum Teil um ihre Erzeugnisse einer weiteren Umwandlung zu unterziehen. Um ein Beispiel zu nennen, will ich die Baumwollspinnereien erwähnen, die einen sehr großen Bedarf an Spulen und Haspeln erzeugt haben. Im Lakedistrikt sind nun Tausende von Menschen beschäftigt, diese erst mit der Hand und dann mit der Hilfe einiger einfacher Maschinen herzustellen (Kropotkin, 1921: 125)."

Es gibt also nach Kropotkin keinen Grund, der eine Zentralisierung vorteilhaft erscheinen ließe, welcher nicht durch passende dezentrale institutionelle Arrangements mehr als ausgeglichen würde; bezüglich der von ihm unterstellten Bedürfnissen der Menschen sei die Kleinindustrie in jedem Fall geeigneter.
Problem der Absatzmärkte der Großindustrie
Der bedeutendste Nachteil großer Fabriken besteht für Kropotkin in ihrer mangelnden Flexibilität, sich externen Wandlungsprozessen anzupassen; dies verursacht seiner Meinung nach die schweren industriellen Krisen, "da [die Großindustrie] nicht in der Lage ist, ihre Maschinen dem immerwährend schwankenden Bedürfnis der Konsumenten schnell genug anzupassen (Kropotkin, 1921: 159)."

Große Fabriken benötigen auch große Absatzmärkte. Die benötigten großen Lose seien bisher nur dadurch zustandegekomme, daß einzelne europäische Länder, deren Industrialisierung früh begann, den Markt durch ihr Kapital und Know-How beherrschten. Dieser Zustand jedoch könne nicht von Dauer sein, für Kapital und Wissen bestünden langfristig keine Grenzen, sämtliche Länder begännen sich zu emanzipieren. Ausführlich geht Kropotkin auf die schnellen industriellen Fortschritte Deutschlands, Italiens und Spaniens ein, um zu beweisen, daß eine industrielle Rückständigkeit schnell aufgeholt werden könne. Daß die Großbetriebe trotz der neu entstandenen Konkurrenz in Europa dennoch noch relativ gut funktionierten, führt Kropotkin auf die Erschließung der überseeischen Gebiete als Absatzmärkte zurück. Aber auch dieser Zustand könne nur von kurzer Dauer sein, als Beispiel nennt er Brasilien,

"daß noch vor einigen Jahren als ewiger und verpflichteter Kunde von den Industrievölkern Westeuropas betrachtet wurde. War es nicht durch die Volkswirtschaftler dazu verurteilt worden, Baumwolle zu pflanzen, sie in rohem Zustand auszuführen und im Austausch dafür Baumwollwaren zu empfangen? Im Jahre 1870 konnten seine neuen erbärmlichen Baumwollspinnereien nur mit insgesamt 385 Spindeln prahlen. Aber schon im Jahre 1887 gab es in Brasilien 46 Baumwollspinnereien, unter denen fünf 40.000 Spindeln aufweisen konnten (Kropotkin, 1921: 18; Kropotkin, 1989: 150 ff.)."

Die Emanzipation schreite bereits auf der ganzen Welt voran und mit ihr breche der jeweilige Absatzmarkt für die europäische Industrie weg. Kropotkin sieht in den überseeischen Gebieten sogar zukünftige Konkurrenten auf heimischen Märkten; als größten zukünftigen Konkurrenten sieht Kropotkin bereits 1899 Japan, dessen raschen Fortschritt er anhand einer Vielzahl von statistischem Material dokumentiert (Kropotkin, 1921, 20 ff.).

"All das zeigt, daß der viel gefürchtete Einfall des Ostens auf die europäischen Märkte schnell fortschreitet. Die Chinesen schlafen noch; aber nach dem, was ich in China gesehen habe, bin ich fest überzeugt, daß in dem Augenblick, wo sie unterstützt durch europäische Maschinen mit der Fabrikation beginnen werden - und die ersten Schritte sind schon gemacht worden - , werden sie es mit größerem Erfolg tun, und notwendig in einem viel größeren Maßstabe als selbst die Japaner (Kropotkin, 1921: 22)."

Die zunehmende Emanzipierung unterentwickelter Länder ist nach Kropotkin unausweichlich und werde über kurz oder lang der Massenindustrie den Boden unter den Füßen wegziehen, da durch die Konkurrenz der Absatz großer Lose nicht mehr gewährleistet sein würde; die Entwicklung hin zu dezentraleren kleineren Fertigungseinheiten, die den Bedarf des heimischen Verbrauchers decken und die sich über das gesamte Land ausbreiten werden mit gleichzeitiger Beschränkung des Welthandels auf das Nötigste, ist für Kropotkin die daraus zu ziehende Schlußfolgerung (Kropotkin, 1989: 150 ff. ).
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