Modifikation Darwins
Mutual Aid im Tierreich
Kropotkin begann, um zu einer korrigierten Fassung der Evolution zu kommen, mit einer Materialsammlung von sozialen Phänomenen im Tierreich; er geht dabei gemäß der Evolutionsrichtung von den einfachen, niederen Tieren systematisch zu den höherentwickelten über.
Diese Sammlung diente ihm lediglich dazu, die Bedeutung von gegenseitiger Hilfe in der Tierwelt zu bezeugen, Kropotkin überläßt es der späteren Forschung, den "Ursprung des Instinktes der gegenseitigen Hilfe aufzuklären (Kropotkin, 1993: 15)." Dennoch greift er schon vor und stellt fest, daß es ein Elterngefühl nicht sein könne, sondern daß es sich um einen "rein sozialen Trieb" handeln müsse (Kropotkin, 1993: 14, 15); eine Folgerung, die sicherlich auch als Reaktion auf Huxley zu verstehen ist, der einzig innerhalb einer Familie den Daseinskampf gemildert sah (Huxley, 1993: 302).
Bezüglich der Kleinstlebewesen stellt Kropotkin die Vermutung an, daß man darauf gefaßt sein müsse, "eines Tages von den Mikroskopikern Tatsachen von unbewußter gegenseitiger Unterstützung selbst aus dem Leben der Mikroorganismen mitgeteilt zu bekommen (Kropotkin, 1993: 30)." Er selber beginnt mit seinen zahlreichen Beispielen bei den Insekten, Ameisen, Termiten, Bienen, aber auch bei nichtstaatenbildenden Insekten wie dem Totengräber oder bei Krebsen sammelt er Beispiele von Mutual Aid aus der Fachliteratur oder stützt sich auf eigene Beobachtungen (Kropotkin, 1993: 30 ff.). Es folgen Beispiele von Vögeln (Kropotkin, 1993: 38-53) mit einem Schwerpunkt auf dem Verhalten in Brutkolonien - Brutgenossenschaften heißen sie bei Kropotkin - und schließlich Beispiele sozialen Verhaltens bei den Säugetieren: Mäuse, Ratten, Erdhörnchen, Büffel, Ziegen, Bieber, Löwen, Wölfe, Elefanten, Affen, Walfische um nur einige zu nennen (Kropotkin, 1993: 53-65); bei all diesen Tieren beschreibt er Fälle von gemeinsamen Jagdstrategien, Schutzfunktionen von Rudeln bzw. Herden, gemeinsame Aufzucht von Jungtieren, oder sogar die Sorge um verletzte oder kranke Artgenossen.
Diese Beschreibungen von gegenseitiger Hilfe bei Tieren verstand Kropotkin nicht als objektive Darstellung der Vorgänge in der Natur, sondern ihm war es wichtig, der damaligen Auffassung des "harten und unerbittlichen Daseinskampfes" eine Reihe von Tatsachen gegenüberzustellen, um auf die Bedeutung sozialer Verhaltensweisen in der Tierwelt hinzuweisen, in einem nächsten Schritt galt es dann, dies auch für die Entwicklung des Menschen und seiner Institutionen zu zeigen, "Mutual Aid" ist von vornherein als einseitiges Werk, als Gegengewicht zu sozialdarwinistischen Schriften konzipiert (Kropotkin, 1993: 19).

Dessen eingedenk kommt Kropotkin dennoch zu der Folgerung, "daß das Gesellschaftsleben in der Tierwelt keine Ausnahme ist; es ist die Regel, das Naturgesetz [...] (Kropotkin, 1993: 64)." Soziales Verhalten - im weitesten Sinne des Wortes - ermögliche es manchen Arten, deren Individuen allein physisch im Daseinskampf unterliegen müßten, überhaupt erst sich gegen andere zu behaupten, ja, es stellt für ihn sogar die mächtigste "Waffe" in diesem Kampf dar.

"Daher behaupten wir, obwohl wir völlig zugeben, daß Kraft, Schnelligkeit, Schutzfarben, List und Ausdauer im Ertragen von Hunger und Kälte, die von Darwin und Wallace angeführt werden, lauter Eigenschaften sind, die das Individuum oder die Art in bestimmten Fällen zu den geeignesten machen, daß in allen Fällen die Geselligkeit der größte Vorteil im Kampf ums Dasein ist (Kropotkin, 1993: 68)."

Doch nicht nur den permanenten "Schnabel- und Krallenkampf" von Hobbes hält Kropotkin für falsch, sondern auch

"die entgegengesetzte Anschauung Rousseaus, der in der Natur nur Liebe, Friede und Harmonie erblickte, in die der Mensch erst Zerstörung hineintrug. In der Tat, der erste Spaziergang in den Wald, die erste Beobachtung irgendwelcher Tiergemeinschaft oder nur das Studium eines ernsten Werkes über das Leben der Tiere [...] muß den Forscher zum Nachdenken veranlassen, welchen großen Raum das Gesellschaftsleben im Leben der Tiere einnimmt und ihn verhindern, in der Natur nichts als ein Schlachtfeld zu sehen oder, im Sinne Rousseaus, nichts als Harmonie und Friede. [...] Weder Rousseaus Optimismus noch Huxleys Pessimismus kann als unparteiische Auslegung der Natur gelten (Kropotkin, 1993: 25, 26)."

Zwei Erkenntnisse aus seinen Beispielen sind für Kropotkin wesentlich: Es zeigt sich zum einen die Vorteilhaftigkeit von kooperativem Verhalten im Daseinskampf, zum anderen seien die dafür notwendigen "sozialen Instinkte" schon bei niederen Tierarten verankert je höher diese in der Entwicklungsstufe stünden, desto "bewußter" und differenzierter würden jene Triebe. Dies gehe einher mit einer Höherentwicklung der Intelligenz (Kropotkin, 1993: 65, 68) - die Verbindung von Fortschritt und Kooperation bei Kropotkin zeichnet sich ab.
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