Strömungen innerhalb der Intelligencija
Obwohl keiner der maßgeblichen Theoretiker der damaligen Zeit sich selbständig mit den Verhältnissen auf dem russischen Dorfe befaßte, geschweige denn unter Leibeigenen gelebt oder sie näher gekannt hatte, schien ihnen der bäuerliche Kollektivgeist in der Dorfverfassung als Zelle eines ursprünglichen Gesellschaftsaufbaus dem westlichen Erwerbsgeist überlegen. Die Dorfgemeinschaft ließ sich sowohl als konservative Kraft deuten, ein Weg, den die sogenannten Slavophilen oder Ostler gingen, aber auch als Träger eines latenten Sozialismus, wie es die sogenannten Westler, unter ihnen Kropotkin taten (Hellmann, 1973: 220).
Die Slavophilen verneinten das Wirken allgemeiner historischer Gesetzmäßigkeiten und forderten für Rußland einen Sonderweg, indem sie eine historische Sonderrolle Rußlands feststellten und diese idealisierten. Sie entwikelten deswegen besondere Formen politischer Organisation, die die Widersprüche westeuropäischer Gesellschaften vermeiden sollten. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vertraten die Slavophilen mehr und mehr einen expansiven Nationalismus, wobei der Begriff "Slaven" nicht religiös, sondern dem Wesen nach - im Sinne des aufkommenden Sozialdarwinismus - biologisch verstanden wurde (Hellmann, 1973: 220; Straube, Zeil, 1978: 149 ff.).
Für die Westler war die Geschichte der Menschheit ein einheitlicher Prozess. Die Wissenschaftsgläubigkeit unter ihnen nahm religiöse Formen an: "Mit Selbstverständlichkeit wurde behauptet, daß die Naturwissenschaft alle Lebensfragen ein für allemal gelöst habe, so daß ihre Ergebnisse auf die Gesellschaft als deren Gesetzlichkeit sich übertragen ließen". Der Mensch galt als reines Naturwesen, die Menschheitsgeschichte konnte so als Teil der Naturgeschichte gesehen werden (Hellmann, 1973: 219).
Hervorzuheben sind Alexander Herzen und Belinski; beide waren stark beeinflußt von französischen Utopisten, wie Blanc-Cabet, Saint-Simon und Fourier, von welchen letzterer auch Kropotkin stark prägte (Zeil, 1978: 152, 160; Kropotkin, 1994: 76 ff.) Von Saint-Simon übernahmen sie den Gedanken des historischen Fortschritts. Die Grundidee ist permanente Bewegung bzw. Wandel in Natur und Gesellschaft: Ein Kampf zwischen Alt und Neu. Ohne Streben nach Neuem kann es keinen Fortschritt geben. Dabei ist für Belinski und Herzen eine entscheidende Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt die Freiheit der Persönlichkeit für die breiten Volksmassen. Sozialismus ist für sie das Ergebnis gesetzmäßiger gesellschaftlicher Entwicklung (Straube, Zeil, 1978: 152 ff.).
Ebenfalls großen Einfluß auf die Werke Kropotkins hatte Tschernischewskij, der versuchte, eine ethisch fundierte Ökonomik zu entwickeln. Er lehnt Darwins "Kampf ums Dasein" als Grundlage für das menschliche Zusammenleben ab und fordert das Gegenteil: Konkurrenz ist zu vermeiden, man müsse sich für den Nächsten engagieren, aber nicht den anderen für sich arbeiten lassen. Er fordert Gleichberechtigung in allen Gebieten des Lebens. Der Mir war für ihn die Keimzelle der zukünftigen Gesellschaftsordnung in einem Rußland, das er als lockere Föderation genossenschaftlich organisierter Gemeinwirtschaften sieht (Naupert, 1942: 9; Stökl, 1983: 570).
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