Seine Institutionenanalyse
Erkenntnistheoretisches Vorgehen
Auch Kropotkin hat jene "mechanische Weltauffassung (Kropotkin, 1994: 38, 58)", jenen unbeirrbaren Glauben an die Wissenschaft, der so charakteristisch für die russische Bildungsschicht war. Die Erkenntnisproblematik reduziert sich für ihn auf Methodologie; es geht allein darum, die richtige Methode korrekt anzuwenden, "Wahrheit" ergibt sich in Folge von selbst. Die einzige Methode, die er dabei gelten läßt, nennt er die induktiv-deduktive, deren Bewährung er in nahezu jedem seiner Artikel und Bücher preist. Seinem Anspruch zufolge wendet er in sämtlichen seiner Werke - ob geographischen oder soziologischen Inhalts - diese Methode zur Erkenntnisgewinnung an.
Nach Kropotkin gilt es, zunächst induktiv vorzugehen, Daten zu sammeln, zu ordnen, Zusammenhänge festzustellen, um allgemeine nomologische Grundsätze bzw. Gesetze zu bekommen, anhand derer man eine umfassende Theorie aufstellen kann - also prinzipiell genau jenes Vorgehen, das ihm bei seiner Gliederung der sibirischen Geographie seinen wissenschaftlichen Erfolg einbrachte; in der darauffolgenden Deduktion können von dieser umfassenden Theorie Antworten auf spezielle Fragestellungen abgeleitet werden, "die neue Fakten vorauszusehen und vorauszusagen erlauben (Kropotkin, 1994: 131)". Kropotkins Verständnis des deduktiven Erkenntnisweges ist eher dogmatisch, denn theoriekritisch (vgl. hierzu Eberhard, 1987: 29), sein Mathematikstudium ist hierbei sicherlich mit prägend gewesen. Die Fragen, die Kropotkin deduktiv klären will, hat er stets vor Augen:
"Wissenschaftliches Forschen ist nur unter der Bedingung fruchtbar, daß ihm ein bestimmtes Ziel eigen ist: die Absicht, eine Antwort auf eine klare, eindeutig gestellte Frage zu finden.[...] Die Frage nun, die sich der Anarchismus [und damit er selber] stellt, kann folgendermaßen formuliert werden: Welche sozietären Formen gewährleisten für eine gegebene Gesellschaft und darüber hinaus für die Menschheit im allgemeinen die größte Summe an Glück und folglich auch die größte Lebenskraft? Welche Formen der Gesellschaft erlauben dieser Summe an Glück, qualitativ und quantitativ zu wachsen und sich zu entwickeln, d.h. vollständiger und allgemeiner zu werden (Kropotkin, 1994: 61)?"
Zu Beantwortung dieser Fragen lehnt er jeglichen anderen Erkenntnisweg ab. Immer wieder betont er, daß kein Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gemacht werden dürfe. Wilhelm Diltheys Gegenüberstellung lehnt er strikt ab (Kropotkin, 1994: 11):
"Der Mensch ist - wie das Wachstum einer Blume oder die Entwicklung des Gesellschaftslebens bei den Ameisen und Bienen - ein Teil der Natur, und sein persönliches und soziales Leben stellt ebenfalls ein Phänomen der Natur dar. Daher besteht kein Grund, daß wir - von der Blume zum Menschen, von der Biber-Siedlung zur menschlichen Stadt übergehend - die uns bisher äußerst hilfreiche Methode aufgeben sollten, um eine andere im Arsenal der Metaphysik zu suchen. Die induktive Methode, welche wir in den Naturwissenschaften anwenden, hat ihre Reichweite so entschieden bewährt, daß das 19. Jahrhundert die Wissenschaft mehr gefördert hat, als dies vorher während zweier Jahrtausende geschehen konnte. Und als man in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts anfing, sie auf das Studium der Gesellschaften anzuwenden, stieß man nirgends auf einen Punkt, wo man sie hätte verwerfen müssen [...] (Kropotkin, 1994: 60)."
Kritik an dieser Art der Erkenntnisgewinnung läßt er nicht gelten, die aufkommende Skepsis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kann er nicht nachvollziehen:
" [...] Dort, wo gewisse Wissenschaftler [...] "eine Niederlage der Wissenschaften" sehen wollten, sah ich lediglich eine selbstverständliche Tatsache, die den Mathematikern sehr vertraut ist: das Erreichen einer ersten Annäherung auf dem Weg zu weiteren [...] Das trifft, um ein sehr bekanntes Beispiel zu nennen, auf die "keplerschen Gesetze" von der Planetenbewegung um die Sonne zu. Ein peinlich genaues Studium der Planetenbewegungen bestätigte zuerst diese Gesetze. Es bewies, daß sich die Sonnensatelliten grosso modo tatsächlich in Ellipsenbahnen bewegen, von denen die Sonne einen Brennpunkt darstellt. Doch man entdeckte auch, daß die Ellipse lediglich eine erste "Annäherung" bedeutet. [... Als man die Abweichungen] die von der Anziehung der Planeten untereinander herstammten, studierte, konnten die Astronomen zu einer zweiten und einer dritten "Annäherung" gelangen, welche den tatsächlichen Planetenbewegungen besser als die ersten entsprachen (Kropotkin, 1994: 24, 25)."
In den Arbeiten über Kropotkin ist zu lesen, sein Anliegen bestünde darin, dem Anarchismus eine wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen. Dies mag tasächlich so gewesen sein, wird neben seinen Arbeiten auch seine Biographie betrachtet (wie z.B. Miller, 1976); bleibt die Person Kropotkin jedoch im Hintergrund, und wird nur sein Werk untersucht, so stellt er darin an sich selbst den Anspruch ohne ideologische Vorbelastung streng wissenschaftlich induktiv-deduktiv vorzugehen, als Resultat seiner Forschungen erhält er dann seine spezifische Form des Anarchismus. Forschern, die zu anderen Ergebnissen kommen, insbesondere den Sozialdarwinisten, wirft er nicht nur vor, Herrschaftswissen zu produzieren, sondern auch bewußt im Eigeninteresse Fehlschlüsse zu ziehen (Kropokin, 1994: 60 ff.).
Das erkenntnistheoretische Vorgehen Kropotkins ermöglicht bei Darstellung und Kritik seiner Werke eine Zweiteilung in einen induktiven und einen deduktiven Teil, was, wie schon erläutert, nicht nur die Darstellung seiner Thesen, sondern auch die kritische Aufarbeitung erleichtert.
Bei seiner Induktion geht Kropotkin dabei im Prinzip wie die Sozialdarwinisten vor, er überträgt den naturgeschichtlichen Evolutionsprozess auf die Humangeschichte, indem er jedoch eine andere Fragestellung (s.o.), andere Annahmen und andere Beobachtungen zugrundelegt, kommt er zu gänzlich anderen Schlußfolgerungen. Um die zentrale Frage nach den "besten" Institutionen des menschlichen Zusammenlebens zu beantworten, schreibt er zunächst eine Entwicklungsgeschichte der Institutionalisierung; aus dieser ermittelt er zum einen menschliche Bedürfnisse, denen die Gestaltung von Institutionen Rechnung tragen muß, zum anderen aber bereits bewährte organisationale Strukturelemente mit Modellcharakter. In einem weiteren Schritt versucht er, dysfunktionale Effekte von Hierarchie herauszuarbeiten, insbesondere ist ihm an der Negierung eines weiteren vermeintlichen Entwicklungsgesetzes gelegen: Die technische Determinierung der Massenindustrie.
In der darauffolgenden Deduktion kann er nun, anhand der von ihm diagnostizierten menschlichen Bedürfnisse, die jeweils angemessenen Institutionsformen ableiten, die sich im wesentlichen aus Elementen aufbauen, deren Vorteilhaftigkeit und Realisierbarkeit er bereits in der Historie feststellte.
Induktion
Deduktion
Kritik
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